Zwangsumzüge mit Kindern verhindern – Kindeswohl gewährleisten (III)

Drucksache 17 / 10 732 - Kleine Anfrage der Abgeordneten Elke Breitenbach und Katrin Möller (LINKE)

Drucksache 17 / 10 732

Kleine Anfrage der Abgeordneten Elke Breitenbach und Katrin Möller (LINKE)

vom 09. Juli 2012 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 10. Juli 2012) und Antwort

Zwangsumzüge mit Kindern verhindern – Kindeswohl gewährleisten (III)

Im Namen des Senats von Berlin beantworte ich Ihre Kleine Anfrage wie folgt:

1. Wie definiert der Senat „angemessenen“ und kindgerechten Wohnraum?

Zu 1.: Um den unbestimmten Rechtsbegriff der „An- gemessenheit“ auszufüllen, hat der Senat von der Satzungsermächtigung gemäß §§ 22 a bis c SGB II Gebrauch gemacht und unter Berücksichtigung der Bundesgesetzgebung und höchstrichterlicher Recht- sprechung die Verordnung zur Bestimmung der Höhe der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (Wohnaufwendungenverordnung - WAV) erlassen.

Eine Definition des Begriffes „kindgerechter Wohnraum“ hat der Senat in diesem Zusammenhang nicht vorgenommen.

Allerdings werden in § 6 W A V die besonderen Bedarfe für Unterkunft und Heizung zur Bestimmung der individuellen Angemessenheit für Alleinerziehende, Schwangere, bei besonderen sozialen Bezügen (z. B. Schulweg von Kindern, Betreuungseinrichtungen, Kindertagesstätten) sowie zur Sicherung des Um- gangsrechts mit den Kindern bei getrennt lebenden Eltern geregelt.

2. Wie bewertet der Senat Ergebnisse der TOPOS- Studie, wonach in Berlin 30.000 Kinder unter 18 Jahren in zu kleinen Wohnungen und in schlechten Wohnverhältnissen leben müssen, weil ihre Eltern sich besseren Wohnraum nicht leisten können?

Zu 2.: Nach eigenen Angaben verfügt TOPOS über 11.000 Datensätze aus Interviews zu Berliner Haushalten. Daraus wurden 962 Datensätze von Haushalten mit Hartz IV – Bezug aus den Bezirken Friedrichshain - Kreuzberg, Pankow, Neukölln, Lichtenberg und Mitte ausgewertet. Die in der Frage zitierte Aussage dieser Studie kann vom Senat nicht bewertet werden, da seriöse Analysen nicht

verfügbar sind. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass bei „unzumutbar beengten Wohn- verhältnissen“ gemäß Ziffer 7.2 Absatz 5 Buchstabe f) AV-Wohnen dem Umzug in eine, der Größe der Bedarfsgemeinschaft entsprechende, größere Wohnung zugestimmt werden kann.

3. Wie bewertet der Senat die Risiken für das Kindeswohl, wenn Kinder und Jugendliche in nicht kindgerechten Wohnverhältnissen leben und aufwachsen?

Zu 3.:Aus Sicht des Senats hat auch das räumliche Umfeld Einfluss auf die kindliche Entwicklung. So fehlt es Kindern bei beengten Wohnbedingungen z. B. an Freiräumen zum Spielen oder an einem Arbeitsplatz zum Lernen. Auch gibt es unter Umständen keine Rück- zugsmöglichkeiten zum Zusammensein mit Gleich- altrigen. Dies kann zu Einschränkungen des kindlichen Bewegungsdranges führen und die Entfaltung von Autonomiebestrebungen behindern. Ungünstige Wohn- verhältnisse können daher für die kindliche Entwicklung problematisch sein.

4. Wie hoch ist in Berlin die Zahl der Familien mit minderjährigen Kindern im Transferbezug im Vergleich zur Gesamtzahl der Bedarfsgemeinschaften nach SGB II und SGB XII? (bitte absolut und prozentual anteilig nach Bezirken/Jobcentern aufschlüsseln)

Zu 4.: Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit und dem Gesundheits- und Sozialinformationssystem erhielten in Berlin zum 31.12.2011 insgesamt 378.623 Bedarfsgemeinschaften Transferleistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII (321.240 im SGB II / 57.383 im SGB XII). Davon erhalten 96.911 Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern Leistungen nach SGB II (25,6 % aller bzw. 30,2 % der SGB II- Leistungsbeziehenden) sowie 1.186 Bedarfs- gemeinschaften mit minderjährigen Kindern Leistungen nach SGB XII (0,3 % aller bzw. 2,1 % der SGB XII Leistungsbeziehenden). Eine Darstellung untergliedert nach Bezirken bzw. Jobcentern lag insgesamt nicht vor.

5. Wie hoch ist der Anteil der unter 4. erfragten Familien, die den Richtwert für „angemessene“ Wohnkosten überschreiten? (bitte nach Bezirken/ Jobcentern aufschlüsseln)

6. Wie viele Familien mit minderjährigen Kindern haben Mietschulden in welcher durchschnittlichen Höhe und in wie vielen Fällen wurden diese Mietschulden übernommen bzw. welche Regelungen zum Abbau der Mietschulden vereinbart (bitte nach Bezirken/Jobcentern aufschlüsseln)?

Zu 5. und 6.: Die erbetenen Daten werden nicht erfasst und können daher nicht ausgewertet werden.

7. Wie garantiert der Senat, dass die Jugendämter in allen Bezirken verbindlich einbezogen werden, wenn Familien mit Kindern Zwangsumzüge oder der Verlust der Wohnung drohen, um eine Einschätzung der Kindeswohlgefährdung vorzunehmen und ressort- und ämterübergreifend nach alternativen Lösungen zum Erhalt der Wohnung und des Wohnumfeldes für die betroffene Familie zu suchen?

Zu 7.: Droht Leistungsempfangenden der Verlust der Wohnung, so ist dies in den meisten Fällen auf Mietschulden zurückzuführen, die zum Erhalt der Wohnung übernommen werden können. Das Land Berlin hat mit der Regionaldirektion Berlin - Brandenburg gemeinsam verbindlich vereinbart (Gemeinsame V erein- barung gemäß § 44 b Absatz 2 SGB II vom 17.12.2010), dass vor einer etwaigen Ablehnung der Miet- schuldenübernahme, die Bezirke (in der Regel die Sozialen Wohnhilfestellen, in Zusammenarbeit mit den jeweils zuständigen Sozialdiensten) einzuschalten sind. Eine Ablehnung bedarf der Zustimmung des Bezirks. Das gilt gerade auch für Familien mit Kindern.

Die Mietübernahme im Rahmen der Leistungen zum Lebensunterhalt findet ihre Grenzen, wenn die Miete den angemessenen Rahmen überschreitet. Dies gilt dem Willen des Bundesgesetzgebers entsprechend auch für Familien mit Kindern und schließt in letzter Konsequenz einen Umzug nicht aus. Allerdings wurde für diese Fälle auch mit der Wohnaufwendungenverordnung wieder der angemessene Rahmen erweitert und der 10-prozentige Zuschlag zum Richtwert beibehalten, um den Wohn- raumerhalt unter dem Aspekt des Erhalts sozialer Bezüge Rechnung zu tragen.

Umzüge als eine der möglichen Kosten- senkungsmaßnahmen gehen jedoch nicht von selbst mit einer Gefährdung des Kindeswohls einher. So hält es das Bundessozialgericht innerhalb eines Vergleichsraumes, wie ihn das Land Berlin wegen seiner verkehrs- technischen Verbundenheit darstellt, durchaus für zumutbar, das Wohnumfeld zu wechseln, selbst wenn Kinder davon betroffen sind und beispielsweise die Schule wechseln müssten.

Die Prüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung obliegt grundsätzlich den Jugendämtern (vgl. § 8a SGB VIII). Sie werden entsprechend einbezogen, wenn im Zusammenhang mit einem Umzug aus Kostengründen (Hartz IV) oder bei Verlust der Wohnung Tatsachen bekannt werden, dass das Wohl des Kindes beeinträchtigt sein kann.

Nach Auskunft der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft sind bezirklicherseits zur Ausgestaltung dieser gesetzlichen V erpflichtung Vereinbarungen zwischen Jugendamt und Jobcenter abzuschließen (vgl. V erpflichtung zur strukturellen Zusammenarbeit nach § 81 SGB VII).

8. Wie bewertet der Senat Einschätzungen von Jugendämtern, dass es immer schwieriger werde, für Familien mit Kindern mit geringem Einkommen oder im Transferbezug bezahlbaren und kindgerechten Wohnraum zu finden? Welchen politischen Handlungsbedarf sieht der Senat diesbezüglich?

Zu 8.: Die Zunahme der wohnungsnachfragenden Berliner Haushalte durch Zunahme der Einwohnerzahl und der Einpersonenhaushalte hat Auswirkungen auf den Wohnungs-markt. Aus dem Berliner Mietspiegel 2011 ist ersichtlich, dass die ortsüblichen Ver-gleichsmieten unter anderem auch bei großen Wohnungen mit mindestens 90 Quadrat-metern überdurchschnittlich angestiegen sind.

Der Senat setzt auf ein Bündel von Vorhaben und Maßnahmen, um angemessenes Wohnen für alle Berlinerinnen und Berliner zu sichern.

Zur Marktentspannung sollen bis 2016 mindestens 30.000 neue Wohnungen in Berlin entstehen. Vorhandener Wohnungsleerstand soll identifiziert und mit jeweils geeigneten Maßnahmen wieder dem Wohnungs- markt zugeführt werden.

Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sollen ihren Wohnungsbestand durch Neubau und Zukauf bis zum Ende der Legislaturperiode auf 300.000 Wohnungen erhöhen. Einen Teil ihrer freien Wohnungen sollen sie wohnungssuchenden Haushalten, die die Berliner Einkommensgrenzen für den Erhalt eines Wohn- berechtigungsscheins einhalten, höchstens zur ortsüblichen Vergleichsmiete anbieten.

Durch die Wahrnehmung von bestehenden Belegungsbindungen bei geförderten Wohnungen wird speziell für einkommensschwächere Haushalte Wohn- raum gesichert.

9. Wie bewertet der Senat den Vorschlag, Wohnungen für Familien mit Kindern im Krisenfall bezirksübergreifend vorzuhalten und wie wird der Senat ein solches Ansinnen im Rahmen des Berliner Netzwerkes Kinderschutz ressortübergreifend unter- stützen?

Zu 9.: Das Berliner Netzwerk Kinderschutz ist ein integriertes Konzept zur Prävention, Beratung, Früherkennung, Krisenintervention und rechtzeitigen Hilfegewährung, das den Kinderschutz stärkt und der Gewaltanwendung gegen Kinder durch Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und Missbrauch entgegenwirkt (vgl. MzK „Konzept für ein Netzwerk Kinderschutz - Gewalt gegen Kinder entgegenwirken“ - Drs. 16 / 0285 vom 20. Februar 2007). Davon ausgehend ist das Hauptziel des Netzwerkes Kinderschutz, ein soziales Frühwarnsystem zwischen Jugendhilfe (z. B. Kindertageseinrichtungen), Gesundheitsämtern, Schulen, Familiengerichten und der Polizei zu entwickeln und zu etablieren, um einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, V ernachlässigung oder Ausbeutung sicher- zustellen. Dieses Frühwarnsystem soll es ermöglichen, Eltern so früh wie möglich Beratung, Unterstützung und Hilfe anzubieten, wenn sie selbst das Wohl ihres Kindes vorübergehend nicht gewährleisten können. Die Angebote sollen die Eltern befähigen, die Erziehung ihrer Kinder eigenverantwortlich entsprechend dem Wohl ihrer Kinder zu gestalten. Die Ziele des Netzwerkes Kinderschutz haben einen anderen Fokus als die Hilfen, die Familien mit Kindern bei drohender Wohnungslosigkeit gewährt werden können. Dennoch hat die Sicherung des Wohnraums für Familien mit Kindern aus Sicht des Senats unter Kinderschutzgesichtspunkten eine unter- stützende Wirkung und kann mögliche Eskalationen verhindern. Daher ist ein Verfahren der Einbeziehung der Jugendämter bei drohendem Wohnungsverlust vorgesehen, um ggf. die Familie im Einzelfall frühzeitig durch Leistungen der Jugendhilfe unterstützen zu können.

Zur gesetzlichen Verpflichtung zur Zusammenarbeit u. a. gemäß § 81 SGB VIII siehe Antwort zu Frage 7.

Allerdings wird das Vorhalten von leerstehenden Wohnungen als problematisch erachtet, weil es dem Wohnungsmarkt Wohnungen, die ansonsten von Familien angemietet werden könnten, entzieht und zudem nicht unerhebliche finanzielle Aufwendungen erfordern würde.

Berlin, den 06. August 2012

In Vertretung

Michael B ü g e

Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales
(Eingang beim Abgeordnetenhaus am 09. August 2012)

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